Die Anfänge dieses Prozesses liegen bereits im Jahr 2010: das LBI-HTA wurde vom Gesundheitsministerium beauftragt, eine „wissenschaftliche Entscheidungsunterstützung für die Neuorientierung der Eltern-Kind-Vorsorge in Österreich“ zu erarbeiten. In den folgenden Jahren näherten wir uns mit unterschiedlichen Fragestellungen und vielfältigen Methoden dem Thema. Im Rahmen des Projekts „Eltern-Kind-Vorsorge neu“ wurden epidemiologische Zahlen zu Gesundheitsbedrohungen für Schwangere und Kinder in Österreich ausgewertet; es wurden Policy-Dokumente zu internationalen Screeningprogrammen recherchiert; österreichische Finanzierungsstrukturen ausführlich dargestellt; systematische Reviews zu Maßnahmen für die Reduktion von Frühgeburten zusammengefasst; Informationen zu Aufsuchenden Hilfen zusammengetragen; Möglichkeiten eines elektronischen Mutter-Kind-Passes analysiert; Budgetauswirkungen einzelner Maßnahmen berechnet; und nicht zuletzt Empfehlungen zu Screeninguntersuchungen aus evidenzbasierten Leitlinien extrahiert.
Dem HTA-Zyklus „Assessment – Appraisal – Decision“ folgend, handelt es sich bei diesen Arbeiten um das „Assessment“, welches in weiterer Folge für den österreichischen Kontext in Hinblick auf die Übertragbarkeit der Ergebnisse unter Einbeziehung nationaler ExpertInnen bewertet werden muss („Appraisal“). Erst dann kann eine gesundheitspolitische Entscheidung („Decision“) getroffen werden. Um dieses „Appraisal“ zu ermöglichen, wurde im Herbst 2014 eine interdisziplinäre und multiprofessionelle Facharbeitsgruppe (FAG) vom Ministerium zusammengestellt, die nach 38 Sitzungen im Mai 2018 ihre Arbeit beendet hat. Mehr als 1.500 Powerpoint-Folien mit den (v.a. Screening-) Empfehlungen aus evidenzbasierten Leitlinien sowie zahlreichen zusätzlichen Informationen wurden vom LBI-HTA zusammengestellt und der FAG präsentiert. Rund 100 Gesundheitsbedrohungen in Schwangerschaft, Wochenbett und früher Kindheit wurden von der FAG diskutiert und anhand der WHO-Screening-Kriterien bewertet. So wurde z.B. die Public Health Relevanz der jeweiligen Erkrankung/des Risikofaktors für die österreichischen Schwangeren und Kinder beurteilt, es wurde hinterfragt, ob ein frühzeitiges Erkennen zu einem besseren Behandlungsverlauf führen könnte, ob ein geeigneter Screening-Test und eine Interventions- bzw. Behandlungsmöglichkeit verfügbar ist, und nicht zuletzt, ob der zu erwartende Nutzen des Screenings den potentiellen Schaden überwiegt. Denn vor dem Hintergrund großer Erwartungen an die Möglichkeiten der Früherkennung wird oft vergessen, dass ein Screening von anscheinend gesunden, symptomfreien Personen immer auch einen Schaden verursachen kann, wie z.B. Verunsicherung durch falsch-positive Ergebnisse, Überdiagnostik und –therapie.
Anhand dieser standardisierten Bewertung jeder einzelnen Gesundheitsbedrohung wurden im Rahmen dieses Prozesses von der FAG insgesamt 51 Empfehlungen FÜR ein Screening und 37 Empfehlungen GEGEN ein Screening sowie zahlreiche Beratungsempfehlungen ausgesprochen. Über die gesamte Prozessdauer hinweg waren insgesamt 49 FAG-Mitglieder und stellvertretende Mitglieder, großteils ehrenamtlich, beteiligt.
Innovativ ist vor allem der Prozess selbst; wesentliche Merkmale sind z.B. Transparenz, Partizipation sowie Nachvollziehbarkeit: Sämtliche Ergebnisprotokolle der FAG sind online auf der Webseite des Ministeriums nachzulesen. Es konnten – auch von am Prozess nicht beteiligten Personen und Institutionen – Stellungnahmen zu den Protokollen abgegeben werden. Durch die Interdisziplinarität und Multiprofessionalität der FAG wurden erstmals neben der ärztlichen Sichtweise auch andere Perspektiven z.B. der Hebammen, Sozialen Arbeit, Evidenzbasierten Medizin, Public Health etc. miteinbezogen. Es wurde systematisch „Evidenz“ (v.a. in Form von Empfehlungen aus methodisch guten, evidenzbasierten, meist internationalen Leitlinien) in der Entscheidungsfindung berücksichtigt, die Bewertung dieser Evidenz basierte auf einem klar definierten Prozess und mündete in immer gleich strukturierten Empfehlungen, welche neben der grundsätzlichen Entscheidung für oder gegen ein Screening auch weitere wichtige Aspekte (Screening für alle oder z.B. eine Risikogruppe, Häufigkeit und Zeitpunkt des Screenings, empfohlene Screeningmethode, Konsequenzen des Screenings) beinhaltete.
Inhaltlich wurden verstärkt auch psychosoziale Themen diskutiert. Empfohlen wurde beispielsweise ein Screening auf Störungen der psychischen Gesundheit bei Schwangeren, häusliche Gewalt, sozioökonomische Benachteiligung und psychosoziale Belastungen. Dadurch soll zukünftig auch eine Verlinkung mit den Frühe Hilfen Netzwerken leichter möglich sein.
Nach 3,5 Jahren monatlicher FAG-Sitzungen geht ein für Österreich in vielerlei Hinsicht innovativer Prozess zu Ende. Nun ist die Politik am Zug, damit die zahlreichen Empfehlungen der ExpertInnen auch die entsprechende praktische Umsetzung erfahren.
Mag.a rer.nat. Inanna Reinsperger, MPH; Wissenschafterin am LBI-HTA
LBI-HTA/ AT 2018: Endbericht „Eltern-Kind-Vorsorge neu. Teil XI: Mutter-Kind-Pass Weiterentwicklung: Screeningempfehlungen der Facharbeitsgruppe für Schwangerschaft, Wochenbett und Kindheit (0-6 Jahre)“, demnächst verfügbar unter https://eprints.aihta.at/1163/
Alle LBI-HTA Berichte des Projekts „Eltern-Kind-Vorsorge neu“ sind verfügbar unter https://hta.lbg.ac.at/page/praevention-screening/de
Informationen zum Prozess, Protokolle der Sitzungen, Stellungnahmen sind verfügbar unter www.bmgf.gv.at/muki
Der Bericht „Generation Genome“, verfasst von politikunabhängigen multidisziplinären ExpertInnen zur Beratung des englischen Gesundheitsministeriums, umfasst klinische Themen wie die nicht-invasive Pränataldiagnostik, Krebsscreening, personalisierte Prävention sowie die Diagnosestellung von seltenen Erkrankungen. Darüber hinaus werden relevante Defizite des derzeitigen Systems aufgezeigt, wie beispielsweise die mangelnde Infrastruktur und die Versorgung im Gesundheitswesen. Das britische „100,000 Genomes Project“ wird als Pionierprojekt angesehen, bei dem derzeit 50.000 Genome von PatientInnen mit seltenen Erkrankungen und deren Angehörigen sequenziert wurden. Dadurch soll in etwa 23% der Fälle eine Behandlungsoption als effektiv oder ineffektiv bewertet worden sein. Des Weiteren wird angeführt, dass dies in den nächsten Jahren um weitere 20% steigen soll.
Insgesamt beinhaltet der Bericht 24 Empfehlungen für die britische Regierung, um den zukünftigen Einsatz der Genomik in die routinemäßige mikrobiologische Praxis einführen zu können. So wird beispielsweise empfohlen, dass ein nationales Genomik-Board („National Genomics Board“) gegründet wird. Im Allgemeinen decken die Empfehlungen den Bereich des Gesundheitswesens und Versorgung, der Wissenschaft, den Umgang mit sensiblen Daten sowie die Aufklärung von Gesundheitspersonal und PatientInnen ab. NG
Department of Health/ UK 2017: Chief Medical Officer Annual Report 2016: Generation Genome. https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/631043/CMO_annual_report_generation_genome.pdf
Zwei mögliche Refundierungspfade kommen zum Vorschlag: Zum einen eine Refundierung (nur) von (FDA) zugelassenen Tests („Companion Diagnostics“) und/ oder zum anderen eine Refundierung unter der zusätzlichen Bedingung von Generierung von Evidenz („conditional coverage“, „coverage with evidence development“). Dieses vorsichtige Vorgehen basiert auf dem Wissen, dass kaum Analysen zur Kosten-Effektivität von Next Generation Sequencing (NGS) Tests vorliegen, resp. die vorliegenden zu 50% zum Schluss kommen, dass NGS Anwendungen nicht kosten-effektiv sind und also – so wie bei anderen Technologien – ein Trade-off zwischen möglichem individuellem Nutzen und gesellschaftlichem Nutzen bei der Ressourcenallokation notwendig ist. Das CMS-Papier basiert auf einer systematischen Analyse der Evidenz von NGS-Anwendungen in der Onkologie („advanced cancer“). Dazu wurde zunächst die publizierte Literatur entlang der Hierarchie der Evidenz (systematische Reviews und Metaanalysen, RCTs, prospektive Beobachtungsstudien, retrospektive Studien und Fallserien) kategorisiert sowie in Form einer annotierten Bibliographie zusammengestellt und im zweiten Schritt nach FDA-zugelassenen Tests und Tumorentitäten ausgewertet und mit Guideline-Empfehlungen (NCCN, Consensus Statements genetischer Fachgesellschaften) komplementiert. Das „Decision Memo“ gibt einen guten Überblick über den Stand des Wissens zum Nutzen von Companion Diagnostics in der Onkologie. CW
CMS/ USA 2018: Proposed Decision Memo for Next Generation Sequencing (NGS) for Medicare Beneficiaries with Advanced Cancer. https://www.cms.gov/medicare-coverage-database/details/nca-proposed-decision-memo.aspx?NCAId=290&bc=AAAAAAAAAAQAAA%3D%3D
Es gibt eine Vielfalt von Therapieansätzen zur Bekämpfung von Parodontopathien. Neben mechanischen und chirurgischen Verfahren werden unter anderem Antibiotika, Lasertherapie, fotodynamische Verfahren oder Air-Polishing-Systeme eingesetzt. Dabei werden die Zahnfleischtaschen gereinigt, die Wurzeloberfläche geglättet und Bakterien abgetötet oder entfernt. Für den Abschlussbericht des IQWiG konnte für sechs Therapieansätze ein Hinweis oder Anhaltspunkt für einen (höheren) Nutzen gefunden werden, meist in Hinblick auf den sogenannten Attachmentlevel. Unter Attachment versteht man die Anheftung, die den Zahn im Kiefer verankert. Der Attachmentlevel gibt an, in welchem Ausmaß der Zahnhalteapparat erhalten oder zerstört ist. Während für den Vorbericht nur für zwei Therapien aussagekräftige Aussagen über gesundheitlich relevante Behandlungseffekte für die Endpunkte Attachmentlevel und Zahnfleischentzündung getroffen werden konnten, gibt es nun im Endbericht für vier Therapien einen Anhaltspunkt und für zwei einen Hinweis auf einen (höheren) Nutzen.
Bei der geschlossenen mechanischen Therapie (GMT) werden Zahnstein und Bakterien mit geeigneten Instrumenten aus den Zahnfleischtaschen entfernt und die Wurzeloberflächen geglättet. Angesichts des höheren Attachmentgewinns sieht das IQWiG hier einen Hinweis auf einen Nutzen (im Vergleich zu keiner Behandlung). Ebenso einen Hinweis auf einen Nutzen gibt es bei der Kombination der GMT mit einer systemischen Antibiotikatherapie, bei der die Behandlungsergebnisse noch besser sind als bei einer alleinigen GMT. Anhaltspunkte für einen höheren Nutzen ließen sich bei der Laserbehandlung, dem fotodynamischen Verfahren und Mundhygiene-Schulungen finden, meist zusätzlich zur GMT. Einzig die chirurgische Taschenelimination zeigte als Behandlung einen Nachteil (geringeren Nutzen).
Trotz verbesserter Evidenz zu Nutzen und Schaden von Behandlungen von Parodonthopatien beziehen sich die verfügbaren Daten ausschließlich auf Zahnfleischentzündungen und den Attachmentlevel. Zu wichtigen anderen Kriterien, wie etwa Zahnverlust, Nebenwirkungen der Behandlung oder Lebensqualität konnten keine aussagekräftigen Schlüsse gezogen werden. Auch zur strukturierten Nachsorge in Form von Mundhygiene und einer regelmäßigen instrumentellen Reinigung ist die Datenlage noch nicht gut, das soll sich aber mit der Ankündigung der Publikation einer relativ großen Studie noch dieses Jahr ändern. PP
IQWiG/ DE 2018: Bewertung der systematischen Behandlung von Parodontopathien https://www.iqwig.de/download/N15-01_Systematische-Behandlung-von-Parodontopathien_Abschlussbericht_V1-0.pdf
Mangels aussagekräftiger Evidenz – so der IQWiG Bericht – sind keine sicheren Aussagen zum Nutzen oder Schaden möglich. In den letzten Jahren steigen die Zahlen der gemeldeten HepB Fälle – teils aufgrund einer veränderten Falldefinition, teils vermutlich durch Zuwanderung von Menschen aus Ländern mit höherer Verbreitung des Virus. Akute Infektionen heilen zu mehr als 95 Prozent spontan aus und werden meist nicht behandelt. Nistet sich das Virus jedoch im Körper ein, besteht die Gefahr von Leberschäden, etwa einer Zirrhose oder einem Karzinom. Chronisch Erkrankte erhalten Alpha-Interferon und ggf. Nukleotid-/Nukleosidanaloga, die die Virusvermehrung hemmen, aber nicht zu einer Heilung führen. Die Impfung gegen Hepatitis B (HBV) ist im kostenfreien Kinder-Impfprogramm enthalten. Bei HepC könnte ein Screening für bestimmte Gruppen sinnvoll sein: die akute HepC Erkrankung wird viel häufiger chronisch, nämlich in 50 bis 90 % der Fälle. Auch eine chronische HepC-Infektion kann später zu einer Leberzirrhose oder einem Leberkarzinom führen. Anders als bei HepB lässt sich die Infektion nicht durch eine Impfung verhindern. Seit einigen Jahren gibt es aber mit den sogenannten direct-acting antivirals (DAAs) Therapien, die bei einem Großteil der PatientInnen nach heutigem Kenntnisstand die Viren komplett aus dem Körper beseitigen.
Für HepC wurden 8 RCTs identifiziert, in denen die Behandlung bis zu 16 Wochen vorverlagert wurde. Dieser Zeitabstand ist aber viel kleiner als die zu erwartende Vorverlagerung der Diagnose und Therapie durch ein Screening. Angesichts des langsamen Verlaufs einer chronischen Hepatitis C lassen sich aus diesen Studien keine Aussagen über den Nutzen eines Screenings ableiten. Aktuelle Leitlinien, die sich für ein Screening auf HepC aussprechen, enthalten – laut IQWiG – plausible Annahmen zu den möglichen Vor- und Nachteilen eines Screenings von Risikogruppen und jenen Geburtsjahrgängen, auf die ein hoher Anteil aller HepC-C-Infektionen entfällt. Die Empfehlungen für ein Screening von Risikogruppen auf HepB fußen dagegen auf Annahmen, die nicht nachvollziehbar sind.
Ein LBI-HTA Bericht (2016) kommt zu dem Schluss, dass die Eignung des HepC-Screenings in PatientInnen als Präventivmaßnahme zum Schutz des Gesundheitspersonals vor Infektionen nicht belegt ist. In den Leitlinien wird empfohlen, Maßnahmen zur Vermeidung von Nadelstichverletzungen universell einzusetzen. Empfehlungen zum präoperativen Screening vor selektiven Eingriffen beruhen auf ExpertInnenkonsens; es konnten keine Studien zur Wirksamkeit als Infektionsprävention identifiziert werden. CW
IQWiG/ DE 2018: Screening auf Hepatitis C (Vorbericht), https://www.iqwig.de/de/projekte-ergebnisse/projekte/nichtmedikamentoese-verfahren/s-projekte/s16-04-screening-auf-hepatitis-c.7584.html
IQWiG/ DE 2018: Screening auf Hepatitis B (Vorbericht), https://www.iqwig.de/de/projekte-ergebnisse/projekte/nichtmedikamentoese-verfahren/s-projekte/s16-03-screening-auf-hepatitis-b.7583.html
LBI-HTA/ AT 2016: Hepatitis C Virus- Screening in Krankenanstalten. https://eprints.aihta.at/1103/
Termine
23. - 27. Juli 2018
European Summer School in Evidence-Based Public Health
München / Deutschland
www.evidencebasedpublichealth.de
16. - 18. September 2018
Cochrane Colloquium
Edinburgh/ Schottland
http://community.cochrane.org/news/cochrane-colloquium-edinburgh-2018
26. - 28. September 2018
2. Interdisziplinäres Dialogforum Mensch und Endlichkeit
Schloss Goldegg, Goldegg am See, Pongau / Österreich
Impressum
Redaktion: Claudia Wild/ CW, Philipp Petersen/ PP
NG: Nicole Grössmann
PP: Philipp Petersen
CW: Claudia Wild