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- Newsletter Juni 2019 | Nr. 178
- Editorial: „Value-Based Healthcare“: Kritik an enger Definition und Strategien für echte werte-basierte Umverteilung
Editorial: „Value-Based Healthcare“: Kritik an enger Definition und Strategien für echte werte-basierte Umverteilung
Eine Analyse der Gründe für die Notwendigkeit intensivierter Strategien zur besseren Nutzung der Ressourcen zeigt, dass sich die Kluft zwischen Bedarf und Nachfrage nach Gesundheitsversorgung und tatsächlich möglichen Ausgaben (bezogen auf das BIP/ Bruttoinlandsprodukt) vergrößert und dass die finanzielle Nachhaltigkeit und der Zugang zur allgemeinen Gesundheitsversorgung („universal healthcare“) zunehmend gefährdet sind. Anhaltende Probleme sind die 1.) ungerechtfertigte Variabilität von medizinischen Interventionen und deren Ergebnissen (z.B. hohe Intensität bei elektiven Operationen in einigen Regionen, ohne die Krankheitslast im Vergleich zu anderen Regionen zu verringern), 2.) die unzureichende Nutzung effektiver Interventionen (Prävention, niedrigschwellige Versorgung), 3.) die Ungleichheit von Krankheiten („inequity by disease“: z.B. unterschiedlicher Zugang zu Behandlung für PatientInnen mit demselben Erkrankungsbild, aber unterschiedlicher Ursache wie etwa bei COPD und Lungenkrebs), sowie 4.) die Überversorgung und Verschwendung mit Folgeschäden für PatientInnen (z.B. Überdiagnose durch umfangreichen Einsatz von Labor- und radiologischen Verfahren, die zu Überbehandlungen führen, die unnötige Interventionen und Ängste verursachen).
Eine Umverteilung von Ressourcen von minderwertiger (low value) zu hochwertiger (high value) Versorgung wird von dem EXPH als äußerste Notwendigkeit für nachhaltige europäische Gesundheitssysteme angesehen, um den zentralen Wert der Solidarität zu bewahren: Das Konzept der Solidarität ist tief in der europäischen Geschichte verwurzelt. Das politische Bekenntnis zu einer allgemeinen Gesundheitsversorgung ist in Artikel 35 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert. Das Konzept der Solidarität kann nicht nur als Wert als solcher, sondern auch als Gestaltungsprinzip für Vorgehensweisen, Steuerungen und Institutionen verstanden werden: Zugänglichkeit, Qualität und Performanz sowie Effizienz können als Indikatoren für die Erreichung des Ziels einer gerechten Verteilung solidarisch aufgebrachter Gesundheitsressourcen an Bedürftige angesehen werden und zum sozialen Zusammenhalt der europäischen Gesellschaften beitragen. Die ethische Grundlage für eine Investition in die Gesundheitsversorgung für alle ist, dass Gesundheit ein intrinsischer Wert ist, d.h. eine Voraussetzung um ein "gutes Leben" führen zu können, um andere (lebenswichtige) Ziele zu erreichen, die Menschen im Leben verfolgen wollen. Mit dieser Werthaltung unterscheidet sich Europa wesentlich von den USA und zeichnet sich dadurch aus!
Derzeit wird "Value/Wert" im Kontext der Gesundheitsversorgung oft als "Gesundheitsergebnis im Verhältnis zu monetarisiertem Input" diskutiert und vonseiten der Industrie werden Preisstrategien („value-based pricing, value-based procurement“) vorgelegt, die sich an der Einschätzung der individuellen (PatientInnen) Wertigkeit von Produkten und Dienstleistungen entlang der gesamten Kette des Behandlungspfades orientieren und nicht an den tatsächlichen Kosten: diese Interpretation von "Wert" (entwickelt von Harvard Gesundheitsökonomen) wird von dem EXPH als zu eng empfunden (und abgelehnt). Der EXPH schlägt hingegen vor, den Begriff "Value-based Healthcare (VBHC)" entlang der Leitprinzipien der solidarischen Gesundheitssysteme in Europa zu definieren. Demzufolge ist „wert-basierte Gesundheitsversorgung“ als umfassendes Konzept zu beschreiben, das auf vier Wert-Säulen basiert: angemessene Versorgung zur Erreichung der persönlichen Ziele der PatientInnen (persönlicher Wert), Erreichung bestmöglicher Ergebnisse mit verfügbaren Ressourcen (technischer Wert), gerechte Ressourcenverteilung über alle PatientInnengruppen hinweg (Allokationswert) und Beitrag der Gesundheitsversorgung zur sozialen Teilhabe (gesellschaftlicher Wert).
Um die finanzielle Nachhaltigkeit der allgemeinen Gesundheitsversorgung zu gewährleisten, wird eine langfristige Strategie der Umverteilung von Ressourcen vorgeschlagen. Der EXPH empfiehlt, ein stärkeres Bewusstsein für Gesundheit als wesentliche Investition in das Wohlergehen der europäische Gesellschaft ("Gesundheit ist Wohlstand"/ „health is wealth“) zu schaffen und die zentrale Stellung des Wertes von Solidarität zu betonen. Die Entwicklung einer konsistenten Sprache (bzgl. Verschwendung, un-/angemessene Versorgung, Gleichberechtigung vs. Gleichheit [„equality vs. equity“] usw.) und die Ausbildung von "Change Agents" (Führungskräften) sind ebenso Teil dieser Strategie wie Investitionen in Steuerung, Monitoren und Bewertung der Umverteilung und Verlagerung von Ressourcen. Der EXPH empfiehlt, die Forschung und Entwicklung von Methoden zur Angemessenheit von Versorgung zu forcieren, die Begründung von „communities of practice“ zu fördern, um die Erfahrungen und Praktiken zu vergleichen und voneinander zu lernen, um Maßnahmen in der EU durchzuführen (inkl. der Verlagerung von Ressourcen aus Budgets, in denen eine Überversorgung vorliegt, zu Krankheitsgruppen, bei denen Evidenz hinsichtlich Unterversorgung und Ungleichheit vorliegt), um Gesundheitsfachkräfte (insb. die Ärzteschaft) zu ermutigen, Verantwortung zu übernehmen und sich für die Verbesserung von Gesundheit von Bevölkerungsgruppen (nicht nur einzelne PatientInnen) verantwortlich zu fühlen. Abschließend empfiehlt das EXPH, PatientInnen-Initiativen, deren Engagement auf dem Prinzip der gemeinsamen Entscheidungsfindung (shared decision-making - SDM) fußt, zu unterstützen und diese mit qualitativ hochwertigen („unbiased“) Informationen zu versorgen.
Priv. Doz. Dr. Claudia Wild, Institutsleiterin des LBI-HTA und Mitglied im EXPH
Referenzen:
Expert Panel on effective ways of investing in Health (EXPH) 2019: Defining value in “value-based healthcare”. Opinion. https://ec.europa.eu/health/expert_panel/home_en
OECD 2017: Tackling Wasteful Spending on Health. Report. https://www.oecd.org/health/tackling-wasteful-spending-on-health-9789264266414-en.htm