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- Newsletter Februar 2016 | Nr. 144
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Menschen in klinischen Versuchen
Globalisierung oder „Versuchskaninchen zum Schnäppchenpreis“
„Binnen vier Jahren ist die Zahl der veröffentlichten klinischen Studien in Europa um ein Viertel gesunken“, schreibt die ZEIT. „Etwa die Hälfte aller klinischen Studien wird Schätzungen zufolge in Entwicklungs- und Schwellenländern durchgeführt“ (4). Die Ursachen sind vielfältig: zum einen sind die Auflagen für klinische Studien in Europa hoch und viele PatientInnen scheuen das Risiko in einer Placebo-Studie teilzunehmen, zumal sie ja tagtäglich von den Vorzügen und Hoffnungen hochtechnologischer Medizin in den Medien lesen können. Zum anderen sind PatientInnen in Ländern wie Russland oder Indien bereitwilliger an klinischen Studien teilzunehmen, da das oft die einzige Möglichkeit ist, an moderne Medikamente zu kommen und dabei Geld zu verdienen. Sofern sie von der Teilnahme an einer Studie überhaupt informiert und aufgeklärt wurden.
Zunächst ein paar Fakten: Die Kosten klinischer Versuche sind im Vergleich zu den USA in Russland um 60% günstiger in der Abwicklung (Rekrutierung von PatientInnen, Vor- und Nachsorge), in China um 48%, in Indien um 44%. Im Vergleich zu Europa (Deutschland) ist der Abstand nochmals deutlich größer (3), weil hier die Studien besonders teuer sind. Vier Pharmakonzerne (Novartis, Roche, Actelion, Merck Serono) haben 1.102 Versuchsstandorte in Russland, 784 in Indien, 208 in der Ukraine (3). Seit 2011 verstarben 2.209 Menschen in klinischen Versuchen in Indien, allein zwischen 2013 und Okt 2015 waren es 1.335, so der „Drug Controller General of India“ (5). Kompensationen werden selten bezahlt. 2010 wurde eine Phase IV Studie zur HPV-Impfung an 25.000 indischen Mädchen wegen „violation of rules on informed consent“ gestoppt, aufgeflogen weil 7 geimpfte Mädchen starben (6).
Der Bericht des „US-Department of Health and Human Services“ (1) sorgt sich primär um die Sicherheit der eigenen Bevölkerung, da die Einflussmöglichkeiten auf die Standards von klinischen Versuchen in Entwicklungs- und Schwellenländern gering sind. Nachdem 2014 auch in Europa 700 Zulassungen basierend auf gefälschten und manipulierten indischen Studien gestoppt wurden (7), ist diese Sorge sehr real. Der Schweizer Bericht sorgt sich vielmehr um Verstöße gegen ethische Standards vor Ort. Dazu zählen die Ausnutzung der gesundheitlichen und sozioökonomischen Verwundbarkeit einzelner und ganzer Bevölkerungsgruppen; fehlendes freiwilliges und informiertes Einverständnis; missbräuchliche Nutzung von Placebos; unzureichende oder ungenügende finanzielle Entschädigung bei Schadensfällen und nicht zuletzt fehlende Behandlung nach Versuchsende.
Dies alles muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass immer mehr Medikamente mit marginalem oder fehlendem Patientennutzen auf unsere Märkte gebracht werden, erprobt und geprüft an Menschen, die sich nicht wehren können (8).
PD Dr. Claudia Wild, Institutsleiterin des LBI-HTA
Quellen:- US-Department of Health and Human Services (2010). Challenges to FDA’s ability to monitor and inspect foreign clinical trials. http://oig.hhs.gov/oei/reports/oei-01-08-00510.pdf
- EMA/ European Medicines Agency (2013). Clinical trials submitted in marketing-authorisation applications to the European Medicines Agency. http://www.ema.europa.eu/docs/en_GB/document_library/Other/2009/12/WC500016819.pdf
- EvB/ Die Erklärung von Bern (2013). Klinische Versuche: Menschliche Versuchskaninchen zum Schnäppchenpreis. Sonderausgabe 4. https://www.evb.ch/fileadmin/files/images/Klinische_Versuche/sept13_klinische_Versuche.pdf
- Die ZEIT online (2014) Eine Überdosis Risiko. Arzneimittelstudien. Ausgabe 12, 23. März. http://www.zeit.de/2014/12/medikament-gilenya-arzneimitteltest-russland
- Bagcchi, S. (2015). Thousands die in clinical trials in India, but compensation is rarely paid. BMJ 2015;351:h6149
- Kay, M (2013). Indian Supreme Court tells government to act on illegal clinical trials. BMJ 2013;346:f51
- Der SPIEGEL online (2015). Manipulierte Pharmastudien in Indien: EU-Kommission stoppt Arzneimittel wegen gefälschten Studien. 23. Juli, http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/eu-kommission-stoppt-arzneimittel-wegen-gefaelschter-studien-a-1045069.html
- ARTE-Film: Menschen als Versuchstiere. https://www.youtube.com/watch?v=S_3YQCX0RlI