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- Newsletter September 2017 | Nr. 160
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HTA und Deliberation – für legitime(re), transparente(re) und gerechte(re) Entscheidungen im Gesundheitswesen
Beinahe alle wirtschaftlich entwickelten Gesellschaften (außerhalb der USA) streben nach einer umfassenden, hochqualitativen medizinischen Versorgung, die allen BürgerInnen zugänglich sein soll. Vor dem Hintergrund steigender Kosten in der Gesundheitsversorgung droht dieses Grundziel, eine „inkonsistente Triade“ zu werden. Dieser Begriff ist der Philosophie/ Logik entlehnt und meint eine Auswahl von Möglichkeiten, in denen immer nur zwei von drei Optionen - nie alle drei gemeinsam - miteinander vereinbar sind. Dies zeigt sich etwa in Diskussionen, die die Wahl lassen zwischen einer umfassenden Gesundheitsversorgung von hoher Qualität für eine begrenzte Zahl von BürgerInnen oder einer hochqualitativen Versorgung für alle, die aber nicht umfassend sein kann oder einer universellen gesundheitlichen Versorgung, die aber nicht von hoher Qualität sein kann [3]. Ein Versuch, eine solche „inkonsistente Triade“ zu lösen, besteht in der Verschränkung von HTA bzw. eines evidenzbasierten Ansatzes mit dem Konzept der deliberativen Entscheidungsfindung.
HTA steuert eine grundlegende Basis zu solchen Prozessen bei, indem es etwa (methodisch verlässlich und nachvollziehbar) die Wirksamkeit und Sicherheit einer medizinischen Technologie bewertet. Letztlich soll neben der Frage nach der verfügbaren Evidenz aber auch die Frage nach der ethischen Bedeutung und Konsequenz einer gesundheitspolitischen Entscheidung beantwortet werden. Gerade Letzteres bedarf besonderer Sorgfalt, da damit immer auch das Wertegefüge einer Gesellschaft im Ganzen berührt wird. Die „Multiple-Criteria Decision Analysis (MCDA)“ etwa ist ein methodischer Ansatz, der soziale, organisatorische, rechtliche und ethische Kriterien im Kontext einer Gesundheitstechnologie identifiziert und darauf abzielt, gesundheitspolitische Entscheidungen Kontext-basierter zu gestalten [4]. Durch die Einbindung von Stakeholdern, PatientInnen und anderen themenrelevanter Gruppen soll die Evidenzbasis erweitert werden. Zudem stützen solche deliberativen Prozesse durch die Berücksichtigung (bisher) vernachlässigter (PatientInnen)Informationen und Erfahrungen die Autorität von politischen EntscheidungsträgerInnen [5]. Ein entscheidender Wert einer deliberativen Entscheidungsfindung ist daher auch in ihrer Legitimität zu finden.
Faktische Evidenz erfordert Interpretation und verschiedene Stakeholder interpretieren den Wert einer Intervention mitunter unterschiedlich: Dies lässt sich etwa am Beispiel von Cochlea Implantaten erklären. Bei der Einführung dieser Hörprothesen für Gehörlose in die klinische Praxis kam es zu teils unterschiedlichen Bewertungen bei KlinikerInnen und den Eltern gehörloser Kinder. Während von klinischer Seite gelobt wurde, dass Cochlea Implantate zu partiellem Gehörsinn führen, wiesen Eltern ausdrücklich auf den Wert ihrer bisherigen Errungenschaften (wie etwa die Gebärdensprache) und auf die Gefahr, dass Technologien diese auch obsolet erscheinen lassen könnten, hin. [2]. Hierin zeigte sich deutlich, dass unterschiedliche Werturteile eine Entscheidung über eine Intervention in die eine oder andere Richtung bewegen können und die Beteiligung von Stakeholdern und Betroffenen notwendig ist, um eine Entscheidungsrichtung zu legitimieren.
An diesem Punkt kommt Deliberation ins Spiel. Dieser sperrig anmutende Begriff betont im Kern, dass bei Entscheidungen im öffentlichen Interesse, das sorgfältige Durchdenken von Argumenten, das Abwägen von Vor- und Nachteilen und die Hintanstellung von Partikularinteressen im Zentrum stehen sollen. Eine solche Haltung geht einer Prozessgestaltung voraus, die danach trachtet, öffentliche (gesundheitspolitische) Entscheidungen fair, transparent und unter Berücksichtigung der am besten verfügbaren Evidenz zu treffen.
Mit dem Konzept der deliberativen Entscheidungsfindung bietet sich ein (idealtypischer) Beteiligungsmodus, der Entscheidungsfindungsprozesse demokratisieren möchte. Die bloße Aggregation von Präferenzen soll mit diesem Ansatz vermieden werden. Hierbei sind jedoch einige grundlegende Regeln zu beachten, wie etwa die Einbindung von relevanten Stakeholdern und die Absicht aller beteiligten Stakeholder, die unterschiedlichen Bedeutungen von ethischen Werten zu identifizieren und gegenseitig anzuerkennen. Ein weiterer (erwarteter) Effekt besteht auch in der Erzielung von gegenseitigen Lerneffekten (zwischen den AkteurInnen), die letztlich zu verbesserten Entscheidungen führen sollen. Ein erfolgreiches Beispiel dafür ist etwa das „Community Forum Deliberative Methods Demonstration Project“, das von der US-amerikanischen „Agency for Healthcare Research and Quality“ (AHRQ) finanziert wurde. Darin wurden rund 900 BürgerInnen (mit unterschiedlichem soziodemographischen Hintergrund) ausgewählt, um die Rolle von Evidenz für Gesundheitsentscheidungen zu bewerten. Zusammenfassend zeigte sich, dass die TeilnehmerInnen (im Vergleich zu den Kontrollgruppen) nach 4 Monaten zu Projektende nicht nur über mehr Informationen, sondern v.a. über ein breiteres Verständnis (etwa hinsichtlich der Bedeutung von Evidenz für individuelle Gesundheitsentscheidungen) verfügten als zu Projektbeginn [6].
Deliberation ist jedoch auch mit Kritik behaftet. Erstens, es handelt sich um einen sehr ressourcenintensiven Prozess. Reflexion und Diskussion erfordern viel Zeit insbesondere wenn der Anspruch besteht, zwischen kontroversiellen Entscheidungspfaden zu wählen. Zweitens, Deliberation bedarf einer intensiven inhaltlichen Auseinandersetzung mit einem (Gesundheits-)Thema. Neben einem entsprechenden Ressourcenaufwand braucht es daher auch entsprechende Fachexpertise, die Laien unter Umständen nicht ausreichend zur Verfügung stehen.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich mit der Anwendung eines HTA-Ansatzes, ergänzt durch deliberative Entscheidungsprozesse, ein adäquater und methodisch hochwertiger Weg für die Lösung von „inkonsistenten Triaden“ eröffnet. Dies erscheint vor dem Hintergrund einer rasanten (medizin-)technologischen Entwicklung und steigender Gesundheitskosten unabdingbar, um die Legitimität, Transparenz und Fairness von gesundheitspolitische Entscheidungen zu gewährleisten.
Mag. Dr. phil. Roman Winkler, MSc (LSE); MA Michal Stanak, AKC, beide wissenschaftliche Mitarbeiter am LBI-HTA
[1] WHO (2015). Global Survey on Health Technology Assessment by National Authorities.
[2] Daniels N, van der Wilt GJ (2016). Health technology assessment, deliberative process, and ethically contested issues. Int J Techol Assess Health Care, 32:1/2, 10–15.
[3] Weale A (1998). Rationing health care: A logical solution to an inconsistent triad. BMJ 316:410.
[4] Goetghebeur M, Wagner M (2016). Identifying value(s): A Reflection on the ethical aspects of MCDA in healthcare decision-making. Multi-Criteria Decision Analysis to Support Healthcare Decisions, 29-46.
[5] Blatussen R et al. (2017). Value assessment frameworks for HTA agencies: The organization of evidence-informed deliberative processes. Value in health 20(2), 256-260.
[6] Carman, K et al. (2016). Understanding an Informed Public’s Views On the Role Of Evidence In Making Health Care Decisions. Health Affairs, 35(4), 566-574.