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- Newsletter März 2024 | Nr. 225
- Editorial: Zugang zu Medikamenten in Österreich: Warum Geschwindigkeit nicht alles ist
Editorial: Zugang zu Medikamenten in Österreich: Warum Geschwindigkeit nicht alles ist
Offenbar hält sich der Mythos, dass ein neu zugelassenes Medikament automatisch eine Innovation ist, hartnäckig. Der Journalismus übernimmt unhinterfragt die Erzählung, nach der das Tempo des Zugangs zu einem Medikament nach dessen Zulassung und Platz eins im Geschwindigkeitswettbewerb die einzigen Qualitätskriterien zu sein scheinen. Nicht berichtet wurde, wer die Studie beauftragt hat (in diesem Fall die Pharmafirma Bristol Myers Squibb). Es wurde in den Medieninterviews auch nicht nachgefragt, ob es vielleicht berechtigte Gründe für die angeführten Zeitspannen gibt. Qualitätsjournalismus schaut anders aus.
Was viele nicht wissen: Bei der Zulassung wird zwar die Wirksamkeit geprüft, nicht aber, ob das Medikament einen größeren Nutzen für Patient*innen hat als Behandlungsalternativen, die bereits bezahlt werden. Genau von diesem Zusatznutzen hängt schließlich ab, was eine echte Innovation und was ein gerechtfertigter Preis für ein Medikament ist. Und genau deshalb ist eine gewissenhafte Evaluation und Preisverhandlung jedes Medikaments, bevor es öffentlich bezahlt wird, so wichtig. Schließlich handelt es sich um ein Solidarsystem, in dem die Mittel begrenzt sind. Patient*innen und ihre Vertreter*innen sollten sich, bevor sie vorschnell die Sozialversicherung als innovationsfeindlich anklagen (oftmals bezahlt von der entsprechenden Pharmafirma) und mit Einzelschicksalen die Politik unter Druck setzen, bewusst sein, dass jede Entscheidung für die Finanzierung eines Medikaments auch Einzelschicksale anderswo verursacht. Dort nämlich, wo die tausenden Euros, die sie für ihre Therapien lautstark verlangen, dann nicht investiert werden können. Denn jeder Euro kann schließlich nur einmal ausgegeben werden. Dass es solche Verdrängungseffekte gibt, zeigen internationale Studien. Eine Sozialversicherung ist für alle Versicherten verantwortlich. Soll sie zukünftig garantieren, dass alle Patient*innen Zugang zu wirksamen Therapien haben, agiert sie daher im Sinne der Versichertengemeinschaft, wenn sie genau prüft, was sie zu welchem Preis zahlt.
Gerade im Spitalsbereich, der in der Studie so vorteilhaft wegkommt, zeigen sich die Folgen eines ungesteuerten Zugangs. Während die Zulassungsstudien oftmals nur für bestimmte Patient*innengruppen die Wirksamkeit belegen, werden die Medikamente in der Praxis viel breiter eingesetzt. Höchste Zeit also, dass das gesetzlich beschlossene Bewertungsboard nun endlich auch für den Spitalsbereich die Möglichkeit schafft, vor dem breiten Einsatz eines Medikaments dessen Zusatznutzen und Einsatzgebiet zu evaluieren, auf Basis dessen angemessene Preise zu verhandeln und österreichweit einheitliche Zugangsbedingungen zu gewährleisten.
Mit der Formulierung, dass viele Anträge „vergeblich“ gestellt werden, bedient die genannte Studie erneut das Bild der innovationsfeindlichen Sozialversicherung, die die Industrie schikaniert. Eine differenzierte journalistische Darstellung würde auch die Gründe für die Ablehnung der Aufnahme in den Leistungskatalog nennen. Fehlte vielleicht der nötige Nachweis eines Zusatznutzens? War der Preis in Relation zum Zusatznutzen zu hoch? Ist es eine vorläufige Ablehnung, weil formale Kriterien nicht erfüllt sind? In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass es nicht wenige Fälle gibt, in denen das Unternehmen erst gar keinen Antrag für die Aufnahme ihres Produkts in den Erstattungskodex stellt, weil es so den Preis selbst bestimmen kann und weil es weiß, dass Medikamente, die nicht im Erstattungskodex sind („no box“) selbstverständlich trotzdem von der Sozialversicherung bezahlt werden, wenn es eine medizinische Notwendigkeit dafür gibt. Daher greift auch das Argument vom nicht vorhandenen Zugang zu Medikamenten in der „no box“ zu kurz.
Es stellt sich die Frage, warum die Studie Österreich ausschließlich mit Deutschland vergleicht. Im Vergleich mit anderen (Sozialversicherungs-) Ländern wäre das Ergebnis ein gänzlich anderes, denn diese (z.B. Niederlande, Belgien) haben selbstverständlich Bewertungsprozesse, bevor sie Entscheidung über die öffentliche Bezahlung von Medikamenten treffen. Als eines dieser Länder haben die Niederlande analysiert, welchen Verlust an Gesundheit auf Bevölkerungsebene die geringfügige zeitliche Zugangsverzögerung aufgrund von Evaluation und Preisverhandlung mit sich bringt. Das Ergebnis zeigte, dass eine ungeregelte Aufnahme in den Leistungskatalog wesentlich weniger Gesundheit für die Bevölkerung bringen würde als durch den derzeitigen Prozess. Das liegt daran, dass aufgrund der Steuerung letztendlich mehr Budget für die Behandlung anderer Erkrankungen – also für alle – zur Verfügung steht.
Erstattungsprozesse sind daher keine Schikane der öffentlichen Kostenträger, sondern ein Gebot der Notwendigkeit für die Aufrechterhaltung eines Solidarsystems. Statt die öffentlichen Zahler dafür zu kritisieren, dass sie genau prüfen, was öffentlich bezahlt wird, sollten wir uns als Bürger*innen, denen ein Gesundheitssystem für alle ein Anliegen ist, genau dafür einsetzen. Es gibt zahlreiche Baustellen im österreichischen Gesundheitssystem, die zurecht zu verbessern sind. Der Zugang zu Medikamenten gehört nicht dazu.
Ingrid Zechmeister-Koss ist stellvertretende Institutsleiterin am Austrian Institute for Health Technology Assessment (AIHTA)
Referenzen
Economica GmbH/ AT 2024: Zugang zu medizinischen Innovationen in Österreich. https://www.economica.eu/wp-content/uploads/2024/03/NO-AT-2400008_ATI-final.pdf.
Boer et al. 2023. Effecten van des sluis. Onderzoek naar de effecten van des sluis voor intramurale geneesmiddelen. https://www.zorginstituutnederland.nl/publicaties/rapport/2023/08/16/onderzoeksrapport-equalis-over-effecten-van-de-sluis-voor-dure-geneesmiddelen.